Wir phantasieren uns zu Tode
(Beitrag im pdf-Format)
Das Joggen durch den Wald wird oft mit Musik aus einem Lautsprecher im Ohr begleitet. Sein Handy konzentriert den Läufer auf Laufpensum, Puls, Blutdruck, auf seine Fitness, auf sich. Er versetzt sich in eine Kunstwelt und versäumt dabei das Staunen über das Leben, das ihn umgibt.
Der Beitrag von Joachim Riedl Wir phantasieren uns zu Tode vom 12. August 1997 hat mich damals genauso mitgerissen, wie nach seiner Wiederentdeckung im Oktober 2015. Eine Zeitspanne, in der sich das Handy in alle Taschen verbreitet hat. Vom Telefon wurde es zum Informationszentrum über viele Themen der Kommunikation hinweg, u.a. mit exzellentem Musik-Spieler. Nun steht seine Verwendung auch als Betrachter eines dreidimensionalen Raums bevor. Eingesetzt in eine 3-D-Brille kann nun das natürliche Umfeld mit vorgespielten Effekten bereichert werden. Ein Lauf durch einen Phantasiewald.
Es wird an der Zeit, an den 18 Jahre alten Artikel zu erinnern. Schon heute verfallen wir Bildern und Worten, die nicht bei uns sind. Wie sehr werden wir Abschied von der Wirklichkeit nehmen, wenn die erfundene Welt noch überzeugendere Bilder sendet, die uns mit freiem Blick nicht angeboten werden. Wenn ich mich in Traumwelten versetzen kann, aus denen ich nicht mehr herauskomme, weil ich mich ansonsten einer als farblos bewerteten Wirklichkeit aussetze.
Ich zitiere aus dem Artikel von Joachim Riedl:
Denn von jenem Augenblick an, in dem unser Bewußtsein in ein Nirwana der MutmaBlichkeiten entglitten ist, in dem unser an Erfahrungen geschultes Wahrnehmungsvermögen nicht mehr zweifelsfrei zwischen Wirklichem und Fiktivem, zwischen Sein und Schein, zwischen dem Angeblichen und dem Maßgeblichen oder er Illusion und der Tatsache unterscheiden kann, an diesem Tag müßten wir auch den Verlust jener Fähigkeit beklagen, die es erlaubt, Verantwortung zu übernehmen und die Dinge des Lebens unter einer gewissen Kontrolle zu halten.
Dem sei eine These von Ernst-Wolfgang Böckenförde hinzuzufügen:
Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von den Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritären Gebots garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit auszugeben.
Die „moralische Substanz des Einzelnen“ wird sich nicht aus Phantasien bilden lassen. Dazu bedarf es eines offenen Blickes auf die Szene. Dazu bedarf es der sachlichen ungeschönten Berichterstattung. Dazu bedarf es der ungeschminkten Worte unserer herausgehobenen Vertreter der Organe des Staates. Die lokale Zeitung trägt da ebenso Verantwortung, wie die lokalen Politiker und Verwalter.
Es fällt hier schwer, von der Verwendung angemessener Bewertungen zu überzeugen, wenn das Publikum, verführt in Kunstwelten, sich die gute Laune durch die Wirklichkeit nicht verderben lassen will.
Anlage:
Wir phantasieren uns zu Tode von Joachim Riedl
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Karlsruhe, Oktober 2015
max.albert@mail.de